Fast so lang, wie es in Mitteleuropa Erdäpfel gibt, gibt es hier auch Erdäpfelsalat, das Gericht ist ungefähr so alt wie die deutschen Worte Erdäpfel und Kartoffel. “Die indianischen Papas kocht und isst man warm oder auch überbrüht und geschält, kalt, mit Öl, Essig, Pfeffer und Saltz”, schrieb Wolf Helmhard von Hohberg bereits 1682 im ältesten deutschsprachigen Erdäpfelsalatrezept.1
Knappe 350 Jahre später ist seine Popularität immer noch ungebrochen, nicht nur, aber auch in Wien. Es gibt kein Wiener Beisl2, in dem nicht Erdäpfelsalat serviert wird. Er ist ein meist verlässlicher Gradmesser für die Qualität eines Lokals: Ist der Erdäpfelsalat gut, wird ziemlich sicher auch der Rest passen.
Ein guter Kartoffelsalat ist für mich vor allem eine haptische Frage3: die Kartoffel sollen weich, aber noch bissfest sein, noch nicht in der Schüssel, aber sehr bald im Mund zerfallen. Die Scheiben müssen gut geschmiert sein von der Marinade und der Kartoffelstärke, sodass sie leicht zusammenkleben; und, ganz wichtig, mindestens küchenwarm, und zwar am besten so wie eine sehr beschäftigte Küche mit Gasherd. Kühlschrankkalt geht überhaupt nicht.
Wenn er noch mollig erdäpfelig schmeckt, leicht zwiebelscharf, mit dezenten Essig- und Senfnoten, bin ich glücklich.
Der Heinrich S. und ich haben uns also daran gemacht, auszuprobieren, wie obiges Ergebnis am besten zu erreichen ist - und ob es noch besser geht. Wir haben dafür wie immer die historische und zeitgenösische Erdäpfelsalalt-Literatur gesichtet, diesmal aus immerhin drei Jahrhunderten, und drei Rezepte zu unseren Referenzrezepten erkoren: Jenes aus Olga und Adolf Hess “Die Wiener Küche”, das von Katharina Seiser und das von Kenji Lopez Alt.4 Warum die drei erkläre ich später.
Außerdem habe ich die netten Leute von der Stadt Krems5 angeschrieben, die einen meiner liebsten Erdäpfelsalate machen, und nach ihren Geheimnissen gefragt. Die Antwort kam erst nach unseren Experimenten, ich hänge ihr Rezept daher einfach ganz hinten noch an.
Teil 1: die Erdäpfel
Die richtige Erdäpfelsorte
Der Heinrich S. hat sich extra nach Niederösterreich zu einem motivierten Erdäpfelbauern begeben, der besonders viele, besonders ungewöhnlich Erdäpfelsorten anbaut. Wir haben einen ganzen Nachmittag damit verbracht, zehn davon gegeneinander zu verkosten und ihre schönen Farben und Formen zu bewundern. Gern würde ich sagen, dass die fast vergessenen Goldmarie umwerfend gut waren, oder keine so gut für Salat geeignet ist wie die violette Vitelotte. Die ernüchternde Wahrheit ist leider: es ist ziemlich egal, welchen Erdäpfel sie verwenden. So lange er gut schmeckt und nicht zu mehlig ist und also zerfällt, ist er auch für den Salat geeignet.
Zwar gibt es klar schmeckbare Unterschiede - keine der alten, seltenen Sorten hat uns aber so recht überzeugt. Die Kipfler, die gern als die Salatkartoffel schlechthin gelobt werden6, sind unserer Meinung nach sogar eine besonders schlechte Wahl, weil sie erstens zu speckig sind, und sich daher keine gute cremige Marinade bildet, und zweitens sehr klein und also viel schäl- und schneidarbeit machen.
Das bestätigt wieder einmal, dass es unglaublich schwierig ist, verlässlich gute Erdäpfel zu finden. Wie bei allen Pflanzen ist es auch bei Erdäpfel schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen, weil einfach keine Konsistenz gegeben ist. Standort, Anbauart und Witterung haben meiner Meinung nach oft mehr Auswirkungen auf das Ergebnis als die Sorte, und auch der gleiche Bauer kann in unterschiedlichen Jahren sehr verschiedene Erdäpfel produzieren.
Klar ergeben besonders köstliche Erdäpfel einen besonders köstlichen Erdäpfelsalat, aber wer ihn nicht sehr puristisch würzt (siehe weiter unten) wird mit sehr vielen Erdäpfeln glücklich. Festkochend aus dem Supermarkt7 kann ganz wunderbare Salate ergeben. Meine noch laufende nicht repräsentative Langzeitverkostung hat zumindest bisher gezeigt, dass Pfanni Erdäpfel, egal welcher Sorte, ungewöhnlich oft ziemlich gut sind.
Lagerware vs. Heurige
Wir haben unsere Salatexperimente in genau der Zeit gemacht, in der die Kartoffel zwar schon großteils schalenfest sind, aber noch kaum gelagert wurden. Wir haben zuerst gefürchtet, dass das nicht der ideale Zeitpunkt ist - unsere Salate haben aber trotzdem tadellos funktioniert.
Die Idee ist, dass Lagerung, vor allem bei niedrigen Temperaturen, Kartoffel süßer macht, was wiederum dem Kartoffelsalat gut steht. Noch nicht einmal schalenfest sollten sie nicht sein. Sie aber erst einige Monate abliegen zu lassen, ist nicht unbedingt nötig, ein wenig Zucker in der Marinade tut’s auch. Schaden tut Ruhezeit im Keller den Erdäpfeln aber bestimmt nicht.
Gekocht, gedämpft oder gebacken
In sämtlichen mir bekannten Erdäpfelsalatrezepten werden die Erdäpfel schlicht gekocht. Wir fanden trotzdem, dass andere Garmethoden, etwa das Erdäpfel backen einen Versuch wert sein könnten. Die Vergleichsverkostung zeigt aber: die Mühe und Zeit kann man sich sparen. Wer sich einen kleinen geschmacklichen Vorteil erarbeiten möchte, dämpft die Knollen, statt sie zu kochen, aber das war’s auch schon.
Backen bringt nichts, genauso wenig wie vor dem Kochen in Scheiben schneiden. Ob die Kartoffel im Ganzen mit oder ohne Schale gekocht werden, macht einen vernachlässigbaren Unterschied. Ich koche sie in der Schale, einfach deswegen, weil sie sich gekocht viel leichter schälen lassen.
Teil 2: Die Marinade
Über die Verhältnisse
Erdäpfelsalate werden mit deutlich mehr Flüssigkeit mariniert als andere Salate, weil die Kartoffel jede Menge Flüssigkeit aufsaugen. Die verschiedenen Rezepte unterscheiden sich vor allem in zwei Punkten: dem Verhältnis von Öl, Essig und Flüssigkeit. Manche Rezepte verwenden eine sehr große Menge Essig, andere sehr viel Flüssigkeit, wieder andere liegen irgendwo dazwischen.
Wir haben aus jeder Kategorie ein Rezept ausgewählt, dessen AutorInnen wir gemeinhin vertrauen, und dann gegeneinander verkostet: Hess für die sauren Marinaden, Katharina Seiser für die mit sehr viel Flüssigkeit, und Kenji Lopez Alt für das, was man als goldene Mitte bezeichnen könnte. Hess nimmt einen Teil Öl, einen Teil Suppe und zwei Teile Essig, Seiser ungefähr einen Teil Essig und Öl8 und vier (!) Teile Wasser, und Kenji etwas mehr Essig als Öl und doppelt so viel Suppe wie Essig.
Das Ergebnis war wenig überraschend: Die Seiser-Marinade ist sehr flüssig - wir fanden, etwas zu flüssig - und sorgt dafür, dass der Salat auch noch nach längerer Ziehzeit etwas suppig wirkt. Hess hat eine gute Konsistenz, ist aber auf der sauren Seite - als Beilage zu Gebackenem ist das mitunter erfrischend, als Stand Alone Salat wäre es uns aber etwas zu viel. Kenji hat sich für uns als fast ideal erwiesen: sehr gute Konsistenz und feiner, ausgewogener Geschmack.
Weil wir es gern sauer, aber nicht Hess-sauer, haben wir eine verbesserte Kenji-Variante mit etwas mehr Essig probiert. Für uns der klare Sieger.
Welcher Essig?
Wir haben Rotwein-, Apfel-, Hesperiden- und den immer wieder genannten Himbeeressig probiert. Himbeere ist interessant, aber keine Alltagswahl, Hesperiden sorgt für den klassischen Beislgeschmack, schlichter Rotweinessig war mir aber am liebsten.
(K)ein Salat für Vegetarier
Die Rindssuppe im Erdäpfelsalat ist gar nicht so alt, wie ihr ikonischer Status vermuten lassen würde: Nach Heinrich S. Recherche taucht sie das erste Mal bei Hess 1913 auf, und zwar ziemlich unvermittelt - in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten Kartoffelsalatgeschichte gibt es keine Flüssigkeitszugaben abseits des Essigs und Öls.9 In modernen Rezepten ab den 1980er Jahren hingegen wird Suppe fast immer verwendet. Nur Seiser setzt Wasser. Wir haben beides nebeneinander probiert.
Ich war zunächst sehr skeptisch10, der Wassersalat hat aber zugegeben was: er schmeckt, frisch, klar, und erfreulich stark kartoffelig. Wenn ich außergewöhnlich gute Erdäpfel habe, denen ich geschmacklich nicht in die Quere kommen will, würde ich den Salat wieder mit Wasser machen. In den anderen, leider häufigeren Fällen gefällt mir die Suppennote und Würze bei Hess und Kenji dennoch besser.
Der richtige Moment
Zahlreiche Rezepte fordern den Erdäpfelsalatkoch auf, die Erdäpfel noch warm zu marinieren, andere sind noch genauer und bestehen darauf, erst Essig und Flüssigkeit, dann erst Öl zuzugeben11. Beides macht etwas zusätzliche Arbeit, es zahlt sich aber aus, zumindest, wenn Sie den Salat relativ bald essen: Sowohl das warm marinieren als auch die spätere Zugabe des Öls macht die Konsistenz des Salats besser, den Geschmack harmonischer, der Essig kommt weniger spitz heraus. Der Unterschied ist nicht riesig, aber der Mehraufwand ist es ebenfalls nicht.
Sonstige Zugaben
Menschen kippen alle möglichen seltsamen Dinge in und über ihren Erdäpfelsalat, von Himbeeressig über Kernöl bis hin zu Knoblauch, Mayonnaise, Apfel oder Ingwer. Ich halte es lieber puristisch. Für mich ist eine Sache wesentlich und zwei ziemlich gut: Ohne Zwiebel geht es nicht, Senf macht die Marinade besser, und Schnittlauch den Salat schöner. Das war’s

Was wir über Erdäpfelsalat gelernt haben
Die Erdäpfelsorte ist ziemlich egal, Hautpsache festkochend und gut.
Es braucht mehr Flüssigkeit, als zunächst vernünftig wirkt.
Noch warm marinierte Erdäpfel ergeben einen besseren Salat
Erst Essig und Suppe/Wasser zugeben, erst später, wenn alles eingezogen ist, das Öl.
Bei sehr guten Erdäpfeln lohnt es sich, Wasser statt Suppe zu nehmen.
Der vorläufig perfekte Gruß aus der Küche Erdäpfelsalat
Die Flüssigkeitsmenge ist ein Richtwert, der von den Kartoffeln und der Rastzeit des Salats abhängt. Variieren Sie sie, wie es ihnen richtig erscheint.
1kg Erdäpfel, festkochend, etwa von Pfanni
120ml Suppe
70ml Rotweinessig, oder, für den Original Wirtshausgeschmack, Hesperidenessig
20g Salz
8g Zucker
12g Senf
60ml Öl
80g rote Zwiebel, fein gehackt
Schnittlauch zum Garnieren
Kartoffel schälen und in Scheiben schneiden (oder, so wie der Heinrich S. und ich bei unseren Versuchen, einen Kartoffelschneider benutzen, das geht schneller und macht die Ergebnisse gleichmäßiger).
Essig, Suppe, Senf, Salz und Zucker zu einer Marinade vermischen und unter die Erdäpfelscheiben mischen, so lange diese noch warm sind. Warten, bis die Flüssigkeit eingezogen ist und dann erst die Zwiebel und das Öl untermischen.
Mit frisch gehacktem Schnittlauch bestreuen und servieren.
Der Erdäpfelsalat der Stadt Krems
“Viele Gäste verlangen den Erdäpfelsalat ganz frisch”, hat mir der Kellner der Stadt Krems am Telefon erzählt. “Und dann merken sie, dass er erst nach ein paar Stunden ziehen besser schmeckt.”
1 kg Kartoffeln festkochend
350 ml Rind Suppe
120 gr Zwiebeln
6 EL Essig
12 EL Öl
4 EL senf
Salz
Pfeffer
3 EL Zucker
Erdäpfel kochen, schälen und in Scheiben schneiden. Noch warm mit Suppe, Essig, Salz, Pfeffer, Zucker und Senf mischen. Kurz ziehen lassen, bis alle Flüssigkeit aufgesaugt ist, und dann erst das Öl und die Zwiebel untermischen. Vor dem Servieren mindestens ein paar Stunden durchziehen lassen.
Man könnte streiten, ob von Hohberg als Österreicher durchgeht. Er wurde zwar in der Gegend von Krems geboren, musste als Protestant nach dem 30jährigen Krieg aber nach Regensburg auswandern, wo er wohl auch sein Rezept niederschrieb. Die Ehre, den Kartoffelsalat erstmals schriftlich festgehalten zu haben, gebührt laut Wikipedia ohnehin den Engländern: bereits 1633 erschien es in einer Neuauflage des The Herball or Generall Historie of Plantes. Dort heißt es pragmatisch und zeitlos wahr, Kartoffel seien köstlich, “either rosted in the embers, or boyled and eaten with oyle, vineger, and pepper, or dressed any other way by the hand of some cunning in cookerie.”
Ziemlich lange dürfte Erdäpfelsalat allerdings vor allem etwas für die feine Gesellschaft gewesen sein: 1752 wird er in einem Nürnberger Kochbuch mit edlem Olivenöl (“Baumöl”) und noch edlerem Pfeffer angemacht, únd noch bei Prato 1879 findet sich ein gewisser Hang zur Extravaganz,. Sie schreibt von “gelben, roten oder blauen” Erdäpfeln rät zu Himbeeressig.
Erdäpfelsalatgeschmäcker sind verschieden. Nur in der Ablehnung der Kübelware mit ihrer irritierend körnigen Konsistenz, dem bissigen Essiggeschmack und viel zu glatten Kartoffelscheibenoberfläche sollten sich alle zivilisierten Menschen einig sein.
Das Rezept ist sehr gut, bis auf die seltsame Behauptung, Österreicher machten Kartoffelsalat mit Hühnersuppe (sic). Ich habe ihn vor ein paar Jahren, als das Rezept erschienen ist, angeschrieben und gefragt, wie er darauf kommt - er hat leider nicht geantwortet.
Achtung, immer voll, unbedingt reservieren. Und wer die Kegelbahn im Winter buchen will, ruft überhaupt am besten jetzt schon an.
Ich bin kein Kartoffelbauer, aber ich habe den Eindruck, Standort, Witterung und Anbauart haben oft mehr Auswirkungen auf das geschmackliche Ergebnis als die Sorte, und der gleiche Bauer kann in unterschiedlichen Jahren sehr verschiedene Erdäpfel produzieren.
Ganz genau nimmt sie vier Teile Essig, fünf Teile Öl und 20 Teile Wasser
Ein anderes Rezept von 1918 deutet an, dass Suppe zunächst zur Milderung des zu scharfen Essigs verwendet wurde.
“Alles ist besser als Wasser”, ist eine alte Kochweisheit, die etwa der Herr Fink oft und gern zitiert.
Bereits 1770 fordert ein Rezept dazu auf.
Jetzt stellt sich nur die Frage: Wenn mehrere Stunden ziehen empfohlen wird, wieso ist der dann noch lauwarm?