Ein lieber Freund, der heute in Berlin wohnt und nur mehr selten hier ist, hat sich bei seinem letzten Wienbesuch von mir ein “Berliner Schnitzel” gewünscht. Der Name hat nichts mit der Stadt Berlin zu tun, sondern bezeichnet schlicht das alte, heute fast ausgestorbene Euter-Schnitzel. Mir ist der Wunsch höchst gelegen gekommen, weil ich das selbst auch schon seit Jahren einmal probieren wollte - Ich habe mich also ein wenig umgehört, und dann bei der Claudia Ringl Kuheuter bestellt.
Als ich zum Abholen gekommen bin, habe ich nicht schlecht gestaunt, als die Frau Ringl die rote Fleischerkiste mit einem ganzen, noch ziemlich prall gefülltem Euter aus dem Kühlraum gerollt hat - jedenfalls habe ich sehr gehofft, sie erwartet nicht, ich nehme das ganze mit. Glücklicherweise hat sie schnell mit ihrem riesigen Messer geschickt die Haut abgezogen und mir zwei zugeputzte Stücke in Haushaltsgröße herunter geschnitten. Das Euter war noch so frisch und voll, dass dabei ordentlich Milch aus den Zitzen gespritzt ist.
In Papier gepackt hat es dann schon deutlich küchenfreundlicher ausgesehen: zart altrosa, milchig, mit hübscher, wabenartiger Struktur. Die allermeisten Rezepte empfehlen, es zu wässern und dann zahlreiche Stunden zu kochen, manchmal mit, machmal ohne diverse Gewürze. Ich habe mich für die puristische Variante entschieden, um den Eutergeschmack möglichst wenig zu verfälschen, und es nur in Salzwasser gegart.
Nach ungefähr vier Stunden sanftem Sieden waren meine zwei Euterstücke weich. Das Kochwasser hatte sich in eine milchige Suppe verwandelt, auf der dicke, sattbuttergelbe Fettaugen trieben. Es schmeckte zart-milchig-käsig mit einem Hauch Innereien-Aroma, und würde, denke ich, eine ziemlich gute Basis für Suppen abgeben.
Zu behaupten, Euter zu essen war einst weit verbreitet, ist vielleicht übertrieben - es war aber definitiv Teil des Speiseplans1. Im Apicius, dem ältesten überlieferten Kochbuch der westlichen Welt, steht ein Euter-Rezepte (gekocht in Essig, Suppe und Silphium), der römische Kaiser Hadrian soll ein Gericht aus Euter, Fasan, Pfau und Schinken sehr geschätzt haben. In Belgien wird es geräuchert, in Ligurien wird Kalbsbrust unter anderem mit Euter gefüllt, in Neapel ist gekochtes Euter Teil des traditionellen Innereiensalats, und in England war es einst beim “Tripe Dresser”, dem Pendant zur italienischen Tripperia, zu haben.
Alte österreichische Kochbücher wie die Seleskowitz oder die Prato kennen neben dem Euterschnitzel (auch wenn es da nie Berliner Schnitzel sondern bloß gebackenes Euter heißt, der Name ist offenbar erst später aufgekommen) mitunter noch Rezepte für eine Art falsches Beuschl mit Euter statt Lunge, und manchmal ist auch ein gefülltes Euter zu finden.
Heute bezeichnet der Oxford Companion to Food es als “verschwindendes Essen” und merkt ein wenig sentimental, aber ohne weitere Erklärung an, es sei nur mehr in ein paar Städtchen in West Yorkshire und East Lancashire zu finden.2 Auch bei uns taucht es spätestens ab der Nachkriegszeit nicht mehr in Standardkochbüchern auf. Bis vor ein paar Jahren war Berliner Schnitzel noch zumindest beim Hansy am Praterstern auf der Karte, bis heute, höre ich auf Twitter, ist es noch beim Gemütlichen Weinhauser auf der Gentzgasse gelegentlich zu haben - sonst aber verläuft sich seine Spur.
Das ist schade und ein wenig unverständlich. Denn erstens hat jede Kuh ein Euter, und es ist erstaunlich groß; und zweitens schmeckt Euter weder unangenehm noch abenteuerlich, sondern schlicht ziemlich gut. Es ist eine dezente, fast subtile Innerei, viel zugänglicher als etwa Anduillette oder auch Nieren, die beide weniger akut vom Veschwinden bedroht sind und als Delikatesse gelten.
Einmal gegart hat Euter eine angenehm weiche Konsistenz mit zartem Biss, ählich wie sein Drüsenkollege, das Bries, und schmeckt ein wenig wie der hintere, dicke Teil der Zunge, bloß ein bisserl mehr nach Innerei. In Neapel, wo ich es bisher in der Tripperia gegessen (und sehr geschätzt) habe, wird es stets kalt serviert. Warm, etwa als Schnitzel, ist der Geschmack kräftiger, die Konsistenz cremiger, das Euter-Erlebnis generell intensiver, aber ohne aufdringlich zu werden.
Wir haben das gekochte Euter halbfingerdick und schräg aufgeschnitten, ganz klassisch paniert und in Butterschmalz (was sonst) herausgebacken. Das Ergebnis waren köstlich knusprige, doppelt buttrige Euter-Schnitzel. Mit etwas Zitrone und gutem Senf war es ein wunderbares Essen. Das nächste Mal täte ich zum Frittieren noch das Milchfett dazu geben, dass das Euer beim Kochen verliert lässt, und eventuell eine gute Schicht Senf unter die Panier streichen.
Würde ich Euter jeden Tag essen? Nein. Aber sehr gerne gelegentlich wieder - schon allein, weil der bestellende Berliner Freund es dann doch nicht zum Euter essen geschafft hat, und ich die Schnitzel in anderer Gesellschaft genossen habe. Die Frau Ringl ist jedenfalls bereit, wieder welches anzubieten, falls die Nachfrage groß genug ist. Wenn sonst noch wer kosten mag: ich organisiere gern per Newsletter eine Sammelbestellung. Bitte auf meiner Substack Seite posten!
Berliner Schnitzel (genug für vier Euteresser)
Etwa 1,5kg frisches Euter (es geht beim Kochen ziemlich ein)
Senf
Mehl, Eier und Brösel zum Panieren
Etwa 200g Butterschmalz zum Herausbacken
Zitrone zum Servieren
Das Euter in reichlich kaltem Salzwasser aufsetzen, zum Sieden bringen, und köcheln lassen, bis es weich ist, etwa vier bis fünf Stunden. Einge alte Rezepte raten außerdem, dass Euter vor dem Kochen ein paar Stunden zu wässern - ich habe das nicht gemacht und es war trotzdem wunderbar.
Im Sud auskühlen lassen und in etwa halbfingerdicke Scheiben schneiden. Sud entfetten und eventuell als Suppenbasis aufheben. Fett später zum Panieren des Euters verwenden.
Euterscheiben auf beiden Seiten mit Senf bestreichen und dann erst in Mehl, dann verquirrlten Eiern und schließlich Brösel panieren.
Butterschmalz und restliches Sudfett in einer Pfanne heiß werden lassen und die Euterstücke darin auf beiden Seiten goldbraun backen. Eine Pastapfanne ist sehr gut dafür geeignet. In mehreren Durchgängen arbeiten und die Pfanne während des Backens gut rütteln und Schwenken. Fertig gebackene Stücke auf einem Gitter im Rohr bis zum Servieren warm halten.
Mit Zitronenspalten, Senf, Petersilerdäpfeln und einem erfrischenden Salat servieren.
Christen, die sonst kaum Essens-Tabus kennen, scheinen generell ein wenig heikel bei Reproduktionsorganen. Die alten Römer schlemmten noch Uterus, und die modernen Asiaten kennen da auch wenige Hemmungen: in Japan sind gegrillte Hühnereierstöcke eine (wirklich sehr gute) Delikatesse, die Chinesen kochen fröhlich Penissuppen, und in Südostasien werden befruchtete Eier geschlürft. In modernen christlichen Ländern hingegen schaffen es gerade noch Hoden gelegentlich auf die Speisekarte.
Wenn Sie mal in Keighley, Halifax, Huddersfield, Dewsbury, Accrington, Bacup, Wigan, Burnley oder Colne waren und dort Euter gegessen haben: ich freue mich über Berichte.
Also den Renner, glaub ich, gibt's noch! Und er kocht weiterhin sehr bodenständig, stabil auf qualitativ hohem Niveau!
Ich schließe mich auch gerne an. Vielen Dank!